Was macht eine Gesellschaft aus? Die Summe ihrer Teile? Ihre Spielregeln? Ihre prägenden Charaktere? Man muss nicht unbedingt zum Schiller-Wort greifen, wonach der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt, um zu begreifen, dass das (Theater-)Spiel immer schon eine ernstzunehmende Übung für mögliche und reale Welten war. Auch die eingeladenen Produktionen bei der 16. Ausgabe von Grenzenlos Kultur fragen danach, was der Mensch ist, wie er lebt und was man wohl verbessern könnte. An das diesjährige Motto des Kultursommers Rheinland-Pfalz "Mit allen Sinnen" dockt das dienstälteste inklusive Theaterfestival im deutschsprachigen Raum selbstbewusst mit einer Fülle von Theaterformen an, die lässig Sprache, Musik, Tanz und Figuren umarmen, Genregrenzen verschwimmen lassen und die Lust an Spiel und Performance feiern.
Gesellschafts-Spiele wurden in der Antike besonders ernst genommen. Passend, dass eine dieser Demokratieübungen, Sophokles’ Tragödie "Philoktet", das Festival eröffnet, erzählt vom Theater RambaZamba. Mit einer Utopie legen sie nach: In der musikalischen Science-Fiction-Gangster-Komödie "Am liebsten zu dritt" zwingt ein Bande "Triso-Frauen" Männer zum Sex, um die Welt mit Down-Syndrom-Babys zu bevölkern. Eine bessere Gesellschaft?
In einer ziemlich düsteren Zukunft spielt der Comic-Actionkracher "Sin City", den die Puppensplatter-Truppe Das Helmi mit "Sündenstadt" adaptieren. Mit dabei: fliegende Schaumstofffetzen, schräge Einsichten und lakonischer Witz. Die Hamburger Gruppe Meine Damen und Herren verneigt sich in "schwarzweiss", inszeniert von bekannten Theatermachern wie Julia Hölscher und Franz Rogowski, sowohl vorm Stummfilm als auch vor der historischen Science Fiction – und zeigt, dass die Zukunftsphantasien von vor hundert Jahren nur bedingt Staub angesetzt haben.
Ziemlich futuristisch erscheint Sue Austins aufsehenerregende Unterwasser-Rollstuhl-Performance "Creating the Spectacle". Die Zuschauer bleiben vermutlich trocken, wenn im Hallenbad Mombach erst kleine Roboter Händels Wassermusik im Becken spielen und dann Sue Austin selbst im Rollstuhl durchs Wasser gleitet. Aktuelles Performance-Theater wiederum reist mit "Regie" von Monster Truck & Theater Thikwa an. Was passiert, wenn sogenannt geistig behinderte Darsteller auch die Regie übernehmen? Gelungener Versuch, Menschenexperiment oder Utopie? Hitzige Debatten sind gewollt. Wie auch nach "Heilige Kühe" von Tadeusz Janiszewski, Schauspieler des polnischen Teatr Osmego Dnia, der danach fragt, wie gesellschaftliche Ausgrenzung und Hass auf das Fremde entstehen. Skurril wird es in "Gespräch haben / Ohne Worte" von Martin Clausen und Kollegen, wo sich fehlschlagende Dialoge, Tanztheater und Konzert zu einer einzigartigen Mischung steigern. Wie es sich anfühlt, wenn eine Gesellschaft vermittelt, dass sie manche Mitglieder nicht braucht, wissen die Darsteller vom Obdachlosentheater RATTEN 07 aus eigener Erfahrung. Sie erzählen in "Heidizeit" von Heimweh, Aggression und Anarchie.
Musik spielt zwar in den meisten Produktionen eine prominente Rolle, kulminiert aber bei Grenzenlos Kultur traditionell in einem Konzert, das in diesem Jahr Dota & Band bestreiten. Die einstige "Kleingeldprinzessin" bringt ihren unverwechselbaren Weltmusiksound und anspruchsvolle deutsche Texte mit, in denen es durchaus gesellschaftskritisch zur Sache geht.
Tradition hat längst das Kinderstück: In diesem Jahr kommt das italienische Teatro Pirata & Gruppo Baku mit "Voglio la luna!"(Ich will den Mond!) und erzählt die Geschichte eines Jungen, der zu teilen lernt. Nach dem Erfolg im letzten Jahr war eine Neuauflage des inklusiven Kinder-Kultur-Fests "Kraut & Rüben" unvermeidbar: Einen Sonntagnachmittag lang wird das KUZ zum Schauplatz gelebter Inklusion. Ein idealer Spielplatz, um sich zwischen Puppen-Theater, Mitmach-Zirkus und Dunkel-Café das Handwerkszeug für eine bessere Gesellschaft anzueignen.
Noch nicht dagewesen ist die theaterpädagogische Tagung "Es geht ums Ganze – Theaterarbeit all inclusive", bei der am ersten Festivalsamstag in Gesprächen, Performances, Workshops und Diskussionen der Frage nachgegangen wird, wie sich Theater inklusiv vermitteln lässt. Am Ende wird sich vermutlich nicht die eine ideale Gesellschaft herauskristallisiert haben. Aber einen Versuch sind die Gesellschaftsspiele allemal wert.